Bis vor wenigen Jahren kam mir der Begriff agil lediglich dann in den Sinn, wenn ich einem Menschen begegnete auf den die Definition des Dudens „von großer Beweglichkeit zeugend; regsam und wendig“ zutraf. Seit ungefähr fünf Jahren wird der Begriff aber regelrecht inflationär in den unterschiedlichsten Zusammenhängen verwendet. In der Literatur lassen sich Titel, die von „Agil führen“ bis zu „Agiles Lernen im Unternehmen“ reichen. Ja, es gibt sogar einen Titel „Agiles Event Management“. Egal was man also macht, wenn es erfolgreich sein soll, muss es agil sein. Als Begründung wird von den Verfassern unisono angegeben, dass die Wirtschafts- bzw. Arbeitswelt sich mit zunehmender Geschwindigkeit verändert und deswegen alle Prozesse und Mitarbeiter unheimlich flexibel sein müssen. Das erreicht man laut den Autoren nur mit autonom arbeitenden Teams, die sich losgelöst von althergebrachten Hierarchiemodellen selbst organisieren. Und: der Kunde hat natürlich im Mittelpunkt aller Bemühungen zu stehen!

Aber musste man „früher“ nicht auch agil sein, um Erfolg zu haben, ohne dass dies explizit herausgehoben wurde? Wie konnte zum Beispiel im Laufe des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung in Deutschland Fahrt aufnehmen? Mit Agilität nach dem Verständnis o. g. Literatur wohl nicht, denn die immer größer werdenden Industrieunternehmen waren streng hierarchisch organisiert und das Idealbild eines Vorgesetzten jener Zeit pflegte einen autoritären Führungsstil; die Selbstorganisation von Mitarbeitern wäre als Revolution gegen die Obrigkeit angesehen worden. Und wie gelang nach dem Zweiten Weltkrieg und dem damit verbundenen kompletten Zusammenbruch der deutschen Volkswirtschaft das sog. Wirtschaftswunder? Das Anfang des 20. Jahrhunderts in der Industrie etablierte Scientific Management wurde mittlerweile zwar zunehmend durch den Human-Relations-Ansatz ergänzt, aber Unternehmensorganisation und Führungsstil hatten sich im Allgemeinen noch nicht grundlegend geändert. Oder wie schafften es die Unternehmen, dass Deutschland in den Folgejahrzehnten eine der größten Volkswirtschaften und eine der größten Exportnationen der Welt wurde? Sicher nicht, indem die Unternehmer, Führungskräfte und Mitarbeiter unter genereller Missachtung der Kundenwünsche mit der Flexibilität eines Ambosses agierten und bestehende Prozesse als in Beton gegossene Glaubensdogmen betrachteten, die nicht infrage gestellt werden durften.

Was heute anders als „früher“ sein soll, ist das Tempo, in der sich die Umwelt des Menschen veränderte. In diesem Zusammenhang wird beispielsweise angeführt, wie lange es von der Erfindung des Faustkeils bis zum Pfeil und Bogen dauerte, dann vom Pfeil und Bogen bis zum Gewehr und wie verhältnismäßig kurz in der Menschheitsgeschichte der Weg vom Gewehr bis zur Interkontinentalrakete war. Zugegeben: die Entwicklungszyklen (nicht nur die technischen) verkürzten sich. Aber verkürzen sie sich heutzutage so sehr, dass es neuer Arbeitsmethoden bedarf, um den Veränderungen Herr zu werden? Müssen wir zum Beispiel aufgrund der fortentwickelten Kommunikationstechnik immer schneller auf Kundenanfragen reagieren? Als junger Mensch war es für mich üblich, auf erhaltene Nachrichten per Brief zu antworten, wenn es mit einem Telefonat nicht getan war. Einen Brief zu formulieren und den Text niederzuschreiben, sich eine Briefmarke zu besorgen, den Brief zum Briefkasten zu bringen und die Beförderung per Post dauerte rund drei Tage. Das änderte sich als ich Anfang der 90er-Jahre Geschäftsmann wurde und mit dem Schritt in die Selbständigkeit ein Fax-Gerät anschaffte. Das war ein Quantensprung in Sachen Geschwindigkeit. Wenn ich vormittags einen meiner Lieferanten um ein Angebot bat, war ich nach der Mittagspause schon leicht genervt, wenn immer noch kein Angebotseingang festzustellen war. Umgekehrt wurden natürlich auch von mir entsprechend kurze Reaktionszeiten erwartet. Im Laufe der 90er-Jahre wurde das Faxen dann zunehmend vom Schriftverkehr per E-Mail abgelöst. Dadurch änderte sich zwar die Art der Übertragung von Nachrichten, nicht aber die Übertragungsgeschwindigkeit. Zumindest nicht relevant. Und seitdem? Heute mailen wir immer noch. 30 Jahre hat sich also nicht wirklich nennenswert etwas verändert. Gleiches gilt für das Telefonieren. Mit der Einführung der ersten praktikablen Handys in den 90ern mussten wir, wenn wir außer Haus waren, zum Telefonieren keine Telefonzelle mehr suchen und warten, bis sie frei war, was die Kommunikation beschleunigte. Aber seitdem hat sich auch beim Telefonieren nichts Wesentliches mehr geändert. Gut, die Handys sind erst kleiner und dann wieder größer geworden. Die Tasten wurden vom Touchscreen abgelöst und man kann mit Ihnen heute jederzeit und überall im Internet nach Informationen suchen. Aber diese Entwicklungen haben nichts in dem Maße beschleunigt, dass nun neue Arbeitsmethoden erforderlich sind. Auch der Verkehr hat sich nicht beschleunigt. Schiffe fahren nicht schneller als vor 30 Jahren, Flugzeuge fliegen nicht schneller und LKW und PKW fahren eher noch langsamer, weil sie auf zunehmend verstopften Straßen andauernd in Staus stehen.

Tatsächlich beschleunigt hat sich in den letzten 30 Jahren die Konstruktion neuer Produkte. Heute wird nichts mehr auf einem Reißbrett gezeichnet. Niemand muss mehr Beschriftungen mühsam mit ISO-Schablonen in Konstruktionszeichnungen einfügen oder Zeichenfehler zeitraubend mit einer scharfen Klinge wegkratzen. Die handelsübliche CAD-Software ist heute deutlich leistungsfähiger als Mitte der 80er-, Anfang der 90er-Jahre. Das war aber eine kontinuierliche Evolution über mehrere Jahrzehnte und kein vor rund 5 Jahren herniedergekommenes schlagartiges Ereignis. Man konnte sich also nach und nach darauf einstellen. Ebenfalls enorm beschleunigt hat sich die Produktion von Gütern. Umfangreiche Automatisierungstechnik und intelligente Lösungen zur Steuerung von Wertströmen hat´s möglich gemacht. Aber agiles Arbeiten bezieht sich – zumindest nach meinem Verständnis – nicht auf Produktionsmethoden.

Warum also der aktuelle Hype um agiles Arbeiten? Es mag sicherlich Branchen oder auch Situationen geben, in denen agiles Arbeiten Vorteile bringt, z. B. in der Softwareentwicklung oder wenn kundenseitig für ein bestimmtes Projekt kein Lastenheft erstellt werden soll oder kann. Aber meiner Meinung nach sollte man es nicht zum universalen Heilsbringer hochstilisieren, zumal es auch nicht zu unterschätzende Gegenargumente gibt. Nicht jeder Mitarbeiter kann damit umgehen, dass Teams von Projekt zu Projekt neu zusammengestellt werden und die Lead-Rolle im Team nur temporär ist. Ebenso kann nicht jeder Mitarbeiter konzentriert arbeiten, wenn der Ball vom Tischkicker, der im Großraumbüro zur kreativen Erholung aufgestellt wurde, quer über seinen Schreibtisch fliegt. Ich möchte nicht so weit wie Fredmund Malik gehen und sagen, dass große Teile der Managementliteratur wertlos sind. Ich denke aber, man sollte jedem neuen Trend eine gesunde Skepsis entgegenbringen. Dies insbesondere dann, wenn ein empirischer Nachweis über die Wirksamkeit dieses Trends schwer bis unmöglich ist. Wie will man denn objektiv bewerten, ob agiles Arbeiten gegenüber klassischem Projektmanagement signifikante Vorteile hat? Die Variablen für eine Erforschung dieser Frage sind viel zu zahlreich. Viele Managementtrends und -moden der Vergangenheit haben gezeigt, dass nicht alles, was modern erscheint, auch echte Vorteile bringt, schon gar nicht auf Dauer.