Wir kennen es mittlerweile alle: Sätze mit Sternchen, Schrägstrich, Unterstrich oder Doppelpunkt in personenbezogenen Wörtern. Alternativ unternehmen insbesondere öffentliche Institutionen vermehrt den Versuch, Begriffe zu neutralisieren: beispielsweise Lehrende statt Lehrerinnen und Lehrer. Nicht wenige, darunter auch ich, gehen den Weg, sich vom Gendern zumindest in Texten „freizukaufen“, indem sie die salbungsvolle Formel voranstellen, dass der geschriebene Inhalt geschlechtsneutral zu verstehen ist, auch wenn aus Gründen der besseren Lesbarkeit personenbezogen nur die männliche (oder – wenn auch seltener – weibliche) Form verwendet wird. Das Gendern hat sich dermaßen polarisierend entwickelt, dass auf der einen Seite die grundgesetzlich garantierte Gleichstellung der Geschlechter in ernsthafter Gefahr gesehen wird, sollte es nicht konsequent Anwendung finden. Auf der anderen Seite befürchtet ein ablehnender Teil der Bevölkerung eine Verfremdung bis hin zur Verballhornung des identitätsstiftenden nationalen Kulturguts deutsche Sprache.
Abgesehen davon, dass gesprochene Sätze meiner Meinung nach mittlerweile klingen, als ob der Redner einen Schluckauf hat und es hin und wieder zu peinlichem „Über-Gendern“ nicht genderfähiger Begriffe kommt wie z. B. Mitglieder*innen, stellt sich mir die Frage, ob gendergerechtes Schreiben oder Sprechen wirklich dazu führt, eine Gleichberechtigung der Geschlechter in der Gesellschaft zu bewirken, zu verankern oder auch nur auszudrücken. Ich denke, die Gleichberechtigung lässt sich nicht dadurch verwirklichen, dass in einem Kulturkreis den Nutzern von Schrift und Sprache etwas aufoktroyiert wird, ohne dass sich die grundlegenden Überzeugungen in den Köpfen ändern. Dirigistischer Druck wird lediglich zu einer oberflächlich korrekten „Mainstream-Kommunikation“ führen, damit niemand Gefahr läuft, als Ewiggestriger oder Ignorant angesehen zu werden. Weil die tatsächliche Geisteshaltung weit von der sprachlichen Ausdrucksweise abweichen kann, gilt es also, zunächst die Werte der Menschen zu verändern. Die Sprache wird dann ganz automatisch geeignete und allgemein akzeptierte Ausdrucksweisen für die gesellschaftliche Entwicklung finden.
Ähnliches gilt für Leadership. Es reicht nicht, wenn eine Geschäftsführung Führungsprobleme in einem Übergewicht von Management gegenüber Leadership verortet und als Lösungsansatz mit zunehmender Vehemenz von den Vorgesetzten aller Hierarchiestufen Leadership-Qualitäten einfordert. Leadership kommt nicht von alleine, es lässt sich auch nicht einfach anordnen. Ähnlich wie beim Gendern, ist es nicht lediglich durch eine im Sinne von Leadership korrekte Verwendung von Begrifflichkeiten herbeizuführen, wobei in diesem Zusammenhang gerne die Wörter Respekt und Wertschätzung überstrapaziert werden. Wenn in einem Unternehmen im Zusammenhang mit Mitarbeitern im Kreise der Personalverantwortlichen und unterstützender Berater nur noch von FTEs und Headcount gesprochen wird und im Falle unausweichlicher Entlassungen ein Cherry Picking durchzuführen ist, ist Respekt und Wertschätzung – und damit ebenso Leadership – in den Köpfen der Führungskräfte sicher weitgehend verloren gegangen. So etwas kann auch nicht damit entschuldigt werden, dass es vermeintlich Begriffe einer betriebswirtschaftlichen Professionssprache sind.
Die Implementierung einer Leadership-Kultur in den betrieblichen Alltag wird nicht nur durch die unreflektierte Verwendung eines wenig wertschätzenden Wordings seitens der Manager erschwert, sondern ebenso dadurch, dass sich viele Führungskräfte gar nicht angesprochen fühlen, wenn von der Unternehmensleitung unzureichendes Leadership-Verhalten thematisiert wird. Das kann einerseits daran liegen, dass sich viele Vorgesetzte ihres Führungsstils und ihrer Wirkung auf Mitarbeiter überhaupt nicht bewusst sind und sich deswegen in falscher Selbsteinschätzung als Leader par excellence ansehen oder es ist andererseits damit zu begründen, dass die Übersetzung des englischsprachigen Begriffs ins Deutsche zu einer diffusen oder sogar falschen Deutung führt. Richtig problematisch wird es, wenn die oberste Geschäftsleitung die vermutet oder tatsächlich unzureichenden Führungseigenschaften lediglich auf die untergeordneten Hierarchiestufen bezieht und sich selber in Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten gutes Leadership attestiert. Wie so oft ist auch beim Thema Leadership anzumerken, dass der Fisch vom Kopf her anfängt zu stinken. Genauso wenig wie Leadership sich als Führungskultur von alleine durchsetzen kann, kommt ein betriebswirtschaftlich orientiertes Management, bei dem nur Zahlen, Daten, Fakten zählen und Beschäftigte lediglich eine Dispositionsgröße sind, von alleine. Auch wenn sich Geschäftsführer dessen gar nicht bewusst sein mögen, so wird die eine oder die andere Richtung durch sie vorgelebt und bildet dadurch den Verhaltensmaßstab, dem nachgeeifert wird. Dabei ist nicht das gesprochene Wort entscheidend, sondern das erkennbare Handeln.
Ob in einem Unternehmen Management oder Leadership vorherrscht bzw. ob echtes Leadership praktiziert oder nur als Worthülse gepflegt wird, lässt sich besonders in Krisensituationen erkennen. Wenn der Umsatz erst stagniert und dann zurückgeht und der Gewinn immer nachhaltiger ausbleibt, wird das Heil in der Regel in einem Turnaround gesucht. Dabei bleibt oftmals kein Stein auf dem anderen. Es werden die Produkte infrage gestellt, die Prozesse akribisch nach Lean-Methoden auf Effektivität und Effizienz durchforstet, die Unternehmensorganisation umstrukturiert und nicht selten mehr oder wenig viele Mitarbeiter entlassen, weil dieser Schritt die am schnellsten umzusetzende Kostenreduzierung in signifikanter Größenordnung verspricht. Nicht selten wird allerdings bereits während der laufenden Operation am offenen Herzen festgestellt, dass unterm Strich irgendwie nichts deutlich besser wird. Ganz im Gegenteil. Wo eine altmodische Linienstruktur durch eine moderne Matrix-Organisation ersetzt wurde, wo Leistung nicht mehr durch Individuen, sondern nur noch von agilen Teams erbracht wird, welche auch noch cross-funktional miteinander arbeiten und wo der Muff nationalen Einkaufs und Vertriebs vom frischen Wind internationalen Agierens hinweggeweht wurde, sind die Ergebnisse schlichtweg enttäuschend. Solange ausreichende Finanzmittel zur Verfügung stehen, mag man sich damit beruhigen, dass die neuen Prozesse und Methoden noch nicht eingespielt sind. Wenn der Turnaround laut Plan aber eigentlich auf der Zielgeraden sein sollte und die Ergebnisse immer noch nicht im grünen Bereich sind, macht sich Besorgnis breit. Plötzlich wird erkannt, dass das am Beginn des Turnarounds so gesehene Silodenken nun von einer ausufernden Bürokratie flankiert wird und ein Gutteil der Mitarbeiter nicht nur Dienst nach Vorschrift macht, sondern zusätzlich noch frustriert ist. Ebenso macht sich die Internationalität, welche auch in die Belegschaft Einzug gehalten hat, kritisch bemerkbar. Nicht jeder Mitarbeiter versteht seinen neuen rumänischen, indischen oder chinesischen Kollegen, weder sprachlich noch kulturell. Das führt zu Missverständnissen, Informationsdefiziten sowie zeitraubenden Störungen des Tagesgeschäfts. Aber wie kommt es dazu? Und lässt sich solch ein Debakel vermeiden?
Kaum ein Change-Prozess wird ohne externe Unterstützung eingeleitet und durchgeführt. Je umfangreicher oder tiefgreifender die Veränderungen geplant bzw. erforderlich sind, desto zahlreicher sind die hinzugezogenen Berater. Erstaunlicherweise fokussiert sich die externe Expertise am Beginn eines Change-Prozesses in der Regel nur auf den betriebswirtschaftlichen Bereich. Der Beratungsschwerpunkt liegt auf Lean-Management sowie die Bildung von Kennzahlen und derem kontinuierlichen Soll-/Ist-Abgleich, zusätzlich ggf. noch auf Marketingmaßnahmen und Optimierung von Beschaffungsprozessen. Wie sagt man so schön? ZDF. Zahlen, Daten, Fakten. Lieber eine Kennzahl, eine Excel-Tabelle oder ein SAP-Auszug zu viel als eine/einer zu wenig. Der Mensch als entscheidender Erfolgs- oder Misserfolgsfaktor wird marginalisiert. Die Mitarbeiter werden schon funktionieren, denn sie wollen ja ihre Arbeitsplätze erhalten. So die (Manager-) Grundüberzeugung. Erst wenn im laufenden Projekt erkennbar wird, dass trotz der betriebswirtschaftlichen Maßnahmen der erhoffte Erfolg ins Stocken gerät oder sogar ausbleibt, wird deutlich, dass es zwar jede Menge Management gibt, aber kaum bis gar kein Leadership. Die Mitarbeiter sind mit der Flut der Neuerungen überfordert und haben Angst vor der ungewissen beruflichen Zukunft. Eine natürliche Reaktion ist, dass sie sich auf einen überschaubaren Arbeitsbereich zurückziehen, den sie im Griff behalten können und Arbeitsmethoden anwenden, die sie beherrschen. Dass diese Methoden der „alten“ Zeit angehören und mit den neu eingeführten Prozessen kollidieren, ist für die Mitarbeiter akzeptabel. Sie verstecken sich im Dickicht (noch) unklarer Strukturen und riskieren lieber einen Verweis für das Nichtbeachten von Prozessen, als als unfähiger Mitarbeiter ins Visier zu geraten. Menschen funktionieren eben doch nicht immer so wie Manager es gerne hätten und oft voraussetzen. Wenn es zu dieser Erkenntnis kommt, ist es meistens zu spät. Das Verhalten der Mitarbeiter trägt zu weiteren Zielverfehlungen bei, die Abwärtsspirale nimmt Schwung auf. Diese Dynamik lässt sich auch damit nicht umkehren, dass auf die Schnelle Schulungsprogramme für Vorgesetzte organisiert und aus dem Lippenbekenntnis, Mitarbeiter wären das wichtigste Kapital des Unternehmens, ernstgemeintes Führungsverhalten wird, denn bis ein Kulturwandel in den Köpfen verankert ist und Wirksamkeit entfaltet vergehen Jahre, nicht Wochen oder Monate.
Viele Change-Prozesse müssten nicht scheitern oder wären u. U. gar nicht erst erforderlich, wenn von Leadership nicht nur gesprochen, sondern wenn es aktiv gelebt werden würde. Gute Worte und gute Absichten helfen nicht weiter. Leadership lebt vom Machen, nicht von Konjunktiven. Es kann im Idealfall eine prägende Führungskultur begründen. Eine Führungskultur, in der jeder Mitarbeiter stärkenorientiert als aktiv gestaltender Erfolgsgarant wahrgenommen wird und dessen individuelle soziale, methodische sowie fachliche Kompetenz kontinuierlich weiterentwickelt wird. Eine Führungskultur, in der Schwächen zwar nicht naiv ignoriert werden, aber in der den Mitarbeitern durch eine entsprechende Organisation von Arbeit die Möglichkeit geboten wird, an und mit den ihnen gestellten Aufgaben zu wachsen, so dass sie ihr wahres Potenzial entdecken und entfalten können. Eine Führungskultur, die von Respekt und Wertschätzung geprägt ist und damit im „War for Talents“ sowohl die älteren als auch die jüngeren Generationen gleichermaßen anspricht.