Neulich las ich folgendes in einem Buch:

„Die neue, »intelligente« Wirtschaft setzt den Gleichklang der Interessen von Arbeitnehmern und Managern voraus, und der intelligente, selbstbewusste Mitarbeiter der Zukunft wird […] höhere Anforderungen an das Führungspersonal stellen.“

An anderer Stelle hieß es:

„Der neue Manager sieht in seinen Mitarbeitern […] Partner, auf deren Intelligenz und Kreativität er angewiesen ist. Er begegnet ihnen mit Achtung und Respekt und kümmert sich auch um ihr Wohlbefinden außerhalb des Betriebs. Er ist eher Coach als Dompteur, er ist Trainer, Seelsorger und Anreger hochmotivierter Mitarbeiter. Seine Macht basiert nicht auf der Befugnis zur Beförderung und Entlassung, sondern auf seiner Kompetenz und Persönlichkeit. Gefragt [sind] Chefs, die die Kommunikation suchen, die kraft ihrer Persönlichkeit Offenheit und Vertrauen wecken und selbst permanent Anstöße geben.“

Ich denke, diese Ausführungen sind sehr aktuell…gerade vor dem Hintergrund der mittlerweile allgegenwärtigen Debatte um die Generation Z und der praktisch in jedem Führungsseminar, jedem Managermagazin und jedem Ratgeber für gute Unternehmensführung vorgebrachten Forderung nach mehr Leadership und weniger Management. Erstaunlich ist, dass diese Passagen aus einem Buch stammen, welches 1992 – also vor ziemlich genau 30 Jahren – erschien, nämlich „Nieten in Nadelstreifen“ von Günter Ogger.

Wenn Günter Ogger bereits vor rund 30 Jahren einen Managertypus forderte, der nach wie vor als zeitgemäß modern angesehen werden kann, drängt sich die Frage auf, was sich in den letzten drei Jahrzehnten in Sachen Management getan oder nicht getan hat?

Diese Frage stellt sich nicht nur bezüglich des Umgangs von Managern mit ihren Mitarbeitern. Günter Ogger geht an mehreren Stellen seines Buches z. B. auch auf Lean Management ein (dessen Ursprünge noch viel weiter als auf den Beginn der 90er-Jahre zurückgehen). Während laut seinen Ausführungen in Japan durch »lean production« bereits längere Zeit enorme Kostenvorteile generiert wurden, hatten deutsche Manager erst durch die 1990 publizierte Studie des MIT „The machine that changed the world“ eine Art Erweckungserlebnis. Mit einem aktuell beliebten Terminus ausgedrückt, könnte man auch sagen, deutsche Manager verspürten plötzlich eine Zeitenwende in der Wirtschaft. Resultat der neuen Erkenntnisse war, dass die Methoden aus Japan in vielen hiesigen Großunternehmen – insbesondere im Automobilbau – zwar umgesetzt wurden, oftmals allerdings nur bruchstückhaft. Es wurden lediglich einzelne Bereiche der Wertschöpfungskette umorganisiert (siehe z. B. JIT). Das grundlegende Denken der Manager blieb in der Regel aber weiterhin traditionell geprägt. Ist das heute anders?

Es gibt heute unbestritten Wirtschaftsbereiche, in denen Lean Management vollkommen selbstverständlich und umfassend praktiziert wird. Nach wie vor ist die Automobilbranche auf diesem Gebiet „Musterschüler“. Wenn sich aber flächendeckend etwas fundamental geändert hätte, dann müssten unsere Betriebe heute alle (oder zumindest fast alle) so lean sein, dass es schon an Magersucht grenzt. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Auch heute noch ist immer wieder zu erleben, dass Unternehmer voller Enthusiasmus verkünden, Lean Management einführen zu wollen. Einführen, nicht weiterentwickeln oder perfektionieren! Diesen Drang verspüren viele Chefs insbesondere dann besonders ausgeprägt, wenn sich eine Unternehmenskrise durch stagnierende Umsätze und Gewinne ankündigt oder wenn die Krise bereits existenzbedrohende Ausmaße angenommen hat. Dann muss alles hopplahopp gehen, womit das Scheitern vorprogrammiert ist. Die eilig engagierten Lean-Berater oder durch HR in ungeahnter Geschwindigkeit organisierte Six Sigma-Schulungen können nämlich nicht mehr schnell genug Wirksamkeit entfalten.

Da es nach 30 Jahren in zwei Kernbereichen unternehmerischen Handelns, nämlich der Personalführung und dem Kostenmanagement, offensichtlich immer noch Defizite gibt, was ist dann in dieser langen Zeit schiefgegangen?

Ein Ansatz, um die Frage zu beantworten, könnte etwas sein, das wohl nur dann auffällt, wenn man das Buch rund 30 Jahre nach seiner Veröffentlichung liest: Praktisch alle erwähnten Personen sind heute Geschichte. Das ist klar. Die biologische Uhr tickt auch für Manager. Nicht so selbstverständlich ist allerdings, dass viele der damals namhaften Unternehmen heute ebenso Geschichte sind. Entweder gibt es sie gar nicht mehr, oder sie gingen aufgrund von wirtschaftlichen Schwierigkeiten durch Fusion in andere Konzerne auf und verloren dadurch ihre Eigenständigkeit. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang beispielsweise coop, AEG, Mannesmann, Dresdner Bank, DASA, Hoesch oder Nixdorf. Ganz anders verhält es sich mit den im Buch genannten Beratungsgesellschaften: Roland Berger, McKinsey, Boston Consulting Group, Heidrick & Struggles usw. sind alle noch da. Von diesen Unternehmen ist keines unter die Räder gekommen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Aber wie kann es sein, dass viele der Beratungskunden vom Markt verschwanden, während ihre Auftragnehmer weiter prosperierten?

Vielleicht lag es daran, dass viele der Consultants zwar über umfangreiche theoretische Kenntnisse aufgrund eines BWL-Studiums und ihrer nahtlos daran anschließenden Karriere in einer Beratungsgesellschaft verfügten, aber kaum einer von ihnen jemals in einem Unternehmen in Linienverantwortung stand oder gar einen Betrieb eigenverantwortlich geführt hat. Die Folge davon könnte gewesen sein, dass ihnen die praktischen Aspekte unternehmerischen Handelns im Grunde fremd waren, so dass sie kaum beurteilen konnten, welche der erlernten betriebswirtschaftlichen Theorien und Modelle in der betrieblichen Praxis ihrer Mandanten zielführend umsetzbar waren. Erschwert wurde das Ganze noch dadurch, dass Personalführung kein Thema im BWL-Studium war, so dass es bei Betriebswirten nur rudimentäre Vorstellungen davon gab, wie die in Lehrbüchern so gut funktionierenden Theorien und Modelle von „echten“ Mitarbeitern umzusetzen sind. Als Folge davon gingen die Beratungen vermutlich am konkreten Bedarf der Unternehmen vorbei. Weil die Manager jener Zeit parallel dazu vielleicht geneigt waren, eine externe Expertise aufgrund des ihnen von den Beratungsgesellschaften vermittelten Kompetenzhintergrundes als Nonplusultra anzusehen, überließen sie das Heft des Handelns mehr oder weniger den Consultants und begnügten sich mit einer Art Beobachterrolle, bei der die Entscheidungsbefugnisse nur noch pro forma in ihren Händen lag. Der gesunde Menschenverstand und die eigenen Fähigkeiten sowie die Kompetenzen der im Unternehmen beschäftigten Mitarbeiter wurden als nicht ausreichend angesehen und kamen nicht mehr zum Tragen. Außerdem musste ein Manager schon ein sehr breites Kreuz gehabt haben, um gegenüber den Stakeholdern ein Infragestellen der Wissenvormachtstellung der Beratungsgesellschaften zu rechtfertigen. Sowas konnte auf Dauer nicht gut gehen.

Ein anderer Ansatz könnte in der sog. „Deutschland-AG“ zu sehen sein. Trotz der von Günter Ogger gescholtenen Nieten in Nadelstreifen hat die deutsche Wirtschaft seit den 90er-Jahren ein kontinuierliches Wachstum erlebt. Die von ihm gesehene Gefahr aus Japan ist zu keinem Zeitpunkt volkswirtschaftlich bedrohlich geworden. Zwar verlor Deutschland – wie vorausgesehen – ganze Wirtschaftszweige (nicht nur) an Japan, diese Verluste konnten allerdings kompensiert werden. Selbst der Zusammenbruch des Neuen Marktes ab 2000 und die ab 2008 eingetretene Finanzkrise waren nur kurzzeitige Dämpfer, die an dem stetigen Aufschwung nichts änderten. Wo keine Not ist, wird keine Notwendigkeit für Veränderungen gesehen. Stillstand bedeutet nach wirtschaftlichen Regeln aber eine schleichende Verdrängung vom Markt. Dieser könnten die genannten Konzerne zum Opfer gefallen sein.

Mit China und Indien erscheinen aktuell zwei Global Player auf der wirtschaftlichen Weltbühne, die alleine schon wegen ihrer Bevölkerungszahlen ein ganz anderes Kaliber als seinerzeit Japan darstellen. Jetzt wird eine Not verspürt, die akuten Handlungsdruck aufbaut. Dieser Druck wird noch dadurch verstärkt, dass die Anfang der 90er-Jahre in Saft und Kraft stehende Babyboom-Generation unaufhaltsam dem Ruhestand entgegenstrebt und durch eine im Vergleich dazu zahlenmäßig deutlich spärlichere Generation Z abgelöst wird. Eine erneute Zeitenwende hat also bereits begonnen. Reagiert die Management-Zunft diesmal auf neue Herausforderungen anders als sie es vor 30 Jahren tat?

Nicht wirklich. Soweit ich es bisher beobachten kann, ist wieder viel halbherziger Aktionismus das Gebot der Stunde. Externe Beratung hat erneut Hochkonjunktur und es wird wie gehabt modern erscheinenden Trends gefolgt. Ob diese zu einer bestehenden Unternehmenskultur passen und ob eine positive Wirkung belegt ist, ist eher von untergeordneter Bedeutung. Hauptsache modern. Beliebt ist zum Beispiel, dass Unternehmen innerhalb kürzester Zeit eine Matrix-Organisation mit latenten Führungsmodellen verpasst bekommen, welche jahrzehntelang in einer Linienorganisation mit klaren Hierarchieebenen und Kommunikationswegen arbeiteten. Ebenfalls beliebt ist cross-funktionales Arbeiten, um Silodenken zu vermeiden. Dass mit einer unzulänglich vorbereiteten und vorschnellen Einführung solcher Organisationsformen und Methoden funktionierende Handlungs- und Entscheidungsprozesse zerstört werden, wird nicht selten erst dann erkannt, wenn die Performance plötzlich einbricht und selbst einfache Routinevorgänge nicht mehr klappen.

Meine persönliche Meinung dazu ist, dass vor jedem Change geprüft werden sollte, inwieweit dieser mit der bestehenden Unternehmenskultur in Übereinklang steht. Dabei ist es ratsam, Odo Marquards Zitat „Zukunft braucht Herkunft“ zu berücksichtigen. Ein Changeprozess ist zum Scheitern verurteilt, wenn während der Umsetzungsphase kein Stein auf dem anderen bleibt und den Mitarbeitern der Eindruck vermittelt wird, sie hätten in der Vergangenheit alles falsch gemacht. Berater sollten nicht vergessen, dass es trotz aller zwischenzeitlich gemachter Fehler nur aufgrund des vorherigen Handelns aller Führungskräfte und Mitarbeiter überhaupt ein Unternehmen gibt, welchem sie ihre Beratung angedeihen lassen können. Im Gegenzug sind Geschäftsführer gut beraten, darauf zu achten, ihre Betriebe nicht zu Spielfeldern immer noch weitgehend theoretisch qualifizierter Consultants werden zu lassen, ohne deren Tun mit eigener Kompetenz sowie gesundem Menschenverstand kritisch zu reflektieren. Je weiter ein Change und das daraus resultierende „neue“ Unternehmen von der bisherigen Unternehmenskultur abweichen, desto umfangreicher muss der Prozess vorbereitet und begleitend kommuniziert werden. Es versteht sich von selbst, dass eine fundierte Vorbereitung nicht von heute auf morgen zu machen ist. Das ist in einer akuten Krisensituation problematisch. Aber die Alternative, nämlich ein gescheiterter Changeprozess, ist ebenso problematisch. Sie führt in der Regel dazu, dass Kapitalgeber, Kunden, Lieferanten und natürlich auch die Mitarbeiter das Vertrauen in das Unternehmen verlieren, was fast zwangsläufig das endgültige Aus bedeutet. Vor diesem Hintergrund könnte die Überlegung, ob weniger nicht mehr ist, durchaus zielführend sein.

Und welches Fazit lässt sich aus den vorangegangenen Ausführungen ziehen? Management ist wie Mode. Ungeachtet unzähliger Hochglanzmagazine, die Trends kreieren, anschließend pushen und nach einiger Zeit für tot erklären, muss man nur lange genug warten bis alles wieder modern wird. Einige Sachen bleiben hingegen immer modern, oder – je nach Perspektive – unmodern, zum Beispiel Birkenstock-Sandalen. Dass diese Einschätzung so falsch nicht sein kann, erkannte ich beim Lesen des Buches von Günter Ogger u. a. daran, dass es Anfang der 90er-Jahre auch schon einen Anselm Grün gab. Damals hieß er nur Rupert Lay. Und mal ehrlich: ohne Leadership wäre es Julius Cäsar 49 v. Chr. sicher nicht gelungen, seine Truppen dazu zu bewegen, entgegen dem Verbot des Römischen Senats den Rubikon zu überschreiten. Leadership ist also ein ganz alter Hut…der schon immer modern war.